Krisenmodus ohne Ende oder haben wir endlich dazugelernt?

Bringt der Multi-Krisen-Modus den Durchbruch für wert(e)steigerndes Stakeholder-Management?

Von Andrea Neumann und Emilio Galli Zugaro 

 

Krise – Niemand bleibt davon verschont, ob privat oder beruflich. Erst die Corona-Pandemie, dann der teilweise Zusammenbruch von Liefer- und Transportketten, gefolgt von einem brutalen Angriffskrieg auf ein souveränes Land mitten in Europa. Gleichzeitig kämpft die Welt gegen die Erderwärmung und damit um ihr Überleben. Und die Reihe der sich aneinanderreihenden „Sub-Krisen“ ließe sich weiter fortsetzen: reale Bedrohung durch eine Rezession, enorme Preissteigerungen, Cyber-Krieg und so manch kleinere, wenn auch nicht weniger existenzielle individuelle Krise, die nicht selten mit den großen Themen bzw. Ängsten unserer Zeit zusammenhängt. Willkommen in der Welt volatiler, unvorhersehbarer und unsicherer Phänomene in einem immer komplexeren Umfeld, das sich mehreren Deutungshoheiten stellen muss. Oder, wie das US-Militär es schon in den 1990ern zusammenfasste: VUCA – Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity. „Was nun?“, fragen sich um uns herum nicht nur die Menschen als Privatpersonen, sondern auch die, die in Unternehmen Verantwortung tragen und denen die Leitplanken der traditionellen Planung und Implementierung immer wieder weggerissen werden. Resignation war noch nie die richtige Strategie. Revolution? Aber wie und wo anfangen? Wie so oft gilt es, aus Herausforderungen zu lernen oder auf Englisch: Make sense out of it!

Die Multi-Krisen unserer Zeit stellen nicht nur die Menschen vor ungeplante Herausforderungen. Auch Unternehmen sind mit ihren Geschäftsmodellen sowie den Beziehungen zu ihren Stakeholdern auf dem Prüfstand. Es gilt nicht nur, das Geschäft und den Betrieb aufrechtzuerhalten, sondern zugleich Wachstumshemmnissen zu begegnen und, ja, auch –Chancen zu nutzen. Das erfordert eine Überprüfung der Prämissen für das Engagement und die Beteiligung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Aktionären, Kunden und der Gesellschaft an der Unternehmung. Einerseits vergrößert der permanente Krisenmodus diese Herausforderungen, die auch vor Pandemie & Co. schon existierten. Andererseits zwingt er Unternehmen auch zu echtem Stakeholder-Management. Wie sonst ließen sich Lieferketten aufrechterhalten, obwohl entscheidende Container im Suez-Kanal feststecken, und Team-Mitglieder trotz monatelanger Home-Office-Phasen an das Unternehmen binden? Wesentliche Grundprinzipien aus der Kommunikationsdisziplin Krisenmanagement wie Schnelligkeit, Wahrheit, Offenheit, Initiative, Dialogbereitschaft und Empathie gehören für viele Unternehmen seit zwei oder mehr Jahren zur Tagesordnung. Werden wir diesen „Krisenmodus“ wieder auf „Standby“ stellen, wenn die Welt wieder in ruhigeres Fahrwasser kommt, oder gehört ein solches Stakeholder-Management demnächst zum Best-Practice, um die großen Themen unserer Zeit (vom Fachkräftemangel bis zur Klimawende) gemeinsam anzugehen und gleichzeitig als Unternehmen nicht nur die „Licence to operate“ zu behalten, sondern nachhaltig Erfolg zu haben?

Wir stehen vor „Tipping Points“ für Kommunikation und Führung. Die Entwicklung wird in den Unternehmen in die eine oder andere Richtung ausschlagen. Das wird aber nicht vom Schicksal bestimmt: Das ist in den Händen von Führungskräften und Kommunikationsprofis. Sie werden die Entwicklung gestalten oder, wenn sie das nicht tun, von ihr gestaltet werden.

 

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter:

Nach zweieinhalb Jahren Pandemie versuchen einige Unternehmen jetzt, eine vermeintlich „neue Normalität“ wieder herzustellen (sie blicken frei nach Karl Kraus „hoffnungsvoll in die Vergangenheit“), indem sie sich an starre Vorgaben klammern, wieviel Home Office jetzt maximal noch genutzt werden darf, statt ihren Führungskräften zu vertrauen, die richtige Balance – wie in den ersten zwei Jahren der Pandemie – zum Wohle des Unternehmens, aber auch im Sinne der Mitarbeiterbindung (Fachkräftemangel!) – selbst (flexibel) mit ihren Teams zu gestalten. Wenn jetzt wieder mehr Home Office drin ist, ist die Begründung oft nicht das Vertrauen in Führungskräfte und ihre Teams, sondern die enorme Heizkostensteigerung am firmeneigenen Arbeitsplatz.

Richtig und wichtig wäre es, spätestens jetzt den Blick zu weiten: Wenn die Arbeitsorganisation in der Pandemie (in den meisten Fällen) so gut funktioniert hat, was können wir daraus für die Optimierung unserer Abläufe, Strategien und die Positionierung als Arbeitgeber in der VUCA-Welt lernen?

  1. Welchen Handlungsspielraum haben Führungskräfte? Wenn es dabei Probleme gibt, liegt die Ursache meist nicht in der Home-Office-Quote, sondern in einer Führungsschwäche, einer falschen Personalentscheidung oder in beidem.
  2. Wie beteiligt man Führungskräfte UND Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Entwicklung von Prozessen und Strategien (nicht nur Top-Down „kommunizieren“, sondern Offenheit und Dialogbereitschaft leben)? Auch die Gehirnwissenschaft hat nachgewiesen, dass Unternehmen, die einen solchen „Kulturwandel“ bewusst gestalten und umsetzen, nachhaltig erfolgreicher sind;
  3. Welche Rolle hat in unsicheren Zeiten der Blick nach vorn? Endgültig ist die Zeit vorbei, in der Visionen mit der Notwendigkeit eines Arztbesuchs gleichgesetzt wurden, jedenfalls wenn sie echt und nachhaltig sind. Auch dafür braucht es Dialog, und zwar mit allen Stakeholder-Gruppen, denn die existentiellen Probleme unserer Zeit anzupacken kann nur mit echtem Teamwork gelingen, indem Perspektiven und vor allem Expertise gebündelt werden mit Blick auf ein großes gemeinsames Ziel, das niemandem egal sein kann.

Wir hören immer wieder von Kritikern, dass solche Vorstellungen zu verkopft sind und den sprichwörtlichen „kleinen Mann in der Produktion“ nicht abholen. Richtig ist – wie sonst auch in einer zielgruppenorientierten Kommunikation – dass die „Flughöhe“ stimmen muss. Und selbstverständlich hebelt die aktuelle Zeit nicht die Maslowsche Bedürfnispyramide aus. Im Gegenteil: Wer sich reale Sorgen darüber macht, ob er seinen Arbeitsplatz verliert, dem ist die Sinnhaftigkeit seiner Arbeit erst einmal egal. Für grundsätzlich gesunde Unternehmen ist es jedoch gerade jetzt erfolgsversprechend, das große Ganze zu vermitteln, mit der Belegschaft zu diskutieren und daraus zu lernen – vorausgesetzt das Unternehmen macht sich die großen Herausforderungen unserer Zeit als „Purpose“ zunutze – operativ und kommunikativ.

Nie zuvor war es so wichtig, proaktiv Themen in der internen Kommunikation aufzugreifen, die keinen unmittelbaren Einfluss auf das Unternehmen haben, aber für die Motivation von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wesentlich sind: persönliche Sorgen um die eigene Gesundheit oder die von Angehörigen (Pandemie, Krieg gegen die Ukraine); Angst um die eigene Existenz (Energiekrise, Bedrohung durch Atomwaffen).

Das erfordert viel Empathie des Top-Managements. Mehr denn je werden Unternehmen an ihren moralischen Grundsätzen, mehr noch an ihren Taten gemessen, die moralische Grundsätze glaubhaft machen. Um es mit den Worten einer jüdischen Adidas-Managerin (aus dem Marketing!) auf LinkedIn zu sagen: „Until adidas takes a stand, I will not stand with Adidas.“ Noch nie gab es so viele (innere) Kündigungen oder zumindest Einspruch der Belegschaft, weil Unternehmen ihre Beziehungen zu einem bestimmten Geschäftspartner (im besagten Fall dem amerikanischen Rapper Kanye West (»Ye«), der sich mehrmals antisemitisch äußerte) oder einem bestimmten Land (Russland) nicht abbrachen. Und: Noch nie war die Verantwortung von Unternehmen für die Gesundheit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter offensichtlicher als in der Pandemie (stecke ich mich am Arbeitsplatz mit Corona an oder nicht?) und angesichts der bereits spürbaren Auswirkungen des Klimawandels (tut mein Arbeitgeber genug dagegen?).

Andersherum formuliert: Unternehmen, die die Sicherheit und Gesundheit ihrer Belegschaft, ihren Beitrag zum Klimaschutz und ihr integres Geschäftsgebaren unter Beweis stellen und das in der internen Kommunikation transparent machen, haben deutlich bessere Chancen, trotz Fachkräftemangel weiter gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu finden. Hier wirkt das alte Kommunikationsprinzip „intern ist extern“. Und es bleibt dabei: Die besten (und oft auch zahlreichsten) Botschafterinnen und Botschafter für das Unternehmen sind die eigenen Leute.Reichweitenstarke Multiplikatoren sind Menschen allerdings auch und gerade, wenn es nicht rund läuft. Das besagte Posting einer Marketing-Mitarbeiterin zur fragwürdigen Haltung ihres Arbeitgebers bekam in weniger als 24 Stunden mehr als 27.500 Likes.

Aktionäre:

Die durch den öffentlichen Druck erzwungene Beendigung der Kooperation mit dem US-Rapper kostet den erwähnten Sportartikelhersteller nicht nur mehr als 7 Prozent seines Umsatzes, sondern auch gehörig Glaubwürdigkeit und Reputation. Die Aktie verlor am Tag der Bekanntgabe der Trennung zwischenzeitlich fast 9 Prozent an Wert und sackte damit auf den tiefsten Stand seit 2016 ab. Bei Börsenschluss hatte sich die Aktie zwar leicht erholt, landete aber dennoch auf dem letzten Platz im Dax. Die Anleger straften damit freilich nicht in erster Linie den fragwürdigen Umgang mit rassistischen Äußerungen eines Kooperationspartners ab, sondern vor allem den Wegfall einer lukrativen Einnahmequelle. Aber wieviel Einfluss werden fehlende oder aus Stakeholder-Sicht verwerfliche Haltungen von Unternehmen in Zukunft auf Investitionsentscheidungen haben? Oder anders ausgedrückt: Entwickelt es sich zum handfesten Anlagerisiko, wenn Unternehmen den herkömmlichen „Shareholder Value“ über gesellschaftlich verankerte Werte stellen? Einiges deutet darauf hin. Darauf lassen zumindest die aktuellen Diskussionen um zu hohe Abhängigkeiten von autokratischen Systemen schließen.

Fest steht: Längst geht es Aktionären um viel mehr als die reinen Finanzkennzahlen. Die so genannten „Non-Financials“ gewinnen an Bedeutung, spätestens seit „Green Finance“ Einzug gehalten hat – natürlich gepusht durch entsprechende politische Richtlinien. Aber der gesellschaftliche Druck war entscheidend für die Entwicklung, die als Trend begann und heute Standard ist. „Für unseren Planeten ist es fünf vor 12 – höchste Zeit den Klimaschutz auch bei der Geldanlage zu berücksichtigen.“ So werben mittlerweile schon Fondsgesellschaften mit Nachhaltigkeitsfokus kurz vor der Tagessschau. Auch hier kommt es zunehmend auf die eingangs erwähnten Werte wie Wahrheit und Offenheit an. Denn Anleger werden nicht nur immer offener für Nachhaltigkeit, sondern auch immer kritischer. Werben Investmentfonds für grüne Anlagemöglichkeiten, nehmen aber kaum andere Unternehmen ins Portfolio als vorher, ist das eben nicht nachhaltig und wird früher oder später auch als „Greenwashing“ entlarvt. Langfristige Stakeholder-Beziehung geht anders.

Auch den meisten konventionellen Investoren ist mittlerweile klar, dass ein Geschäftsmodell nicht wirklich resilient sein kann, wenn es wesentliche Kennzahlen wie den Ausstoß von Treibhausgasen oder die Sicherheit von Produktionsanlagen ausklammert. Unternehmen, die nachweislich ihren Beitrag zur Begrenzung der Erderwärmung leisten, werden dagegen zunehmend vom Finanzmarkt honoriert – sei es durch günstigere Kreditkonditionen („ESG-linked Loan“) oder einen besseren Zugang zu Fördermitteln. Mehr noch: Die Transparenz über „grüne KPIs“ wie die Entwicklung von Treibhausgasemissionen wandelt sich vom „Reporting Requirement“ zum Wettbewerbsvorteil, jedenfalls für die Unternehmen, die hier eine gute Performance aufweisen können.

Konzerne, die sich selbst als Investoren z. B. in Form von Corporate Venturing betätigen, haben das längst erkannt. Viele suchen gezielt nach Start-ups im Bereich grüner Produktentwicklungen, die das eigene Portfolio nachhaltiger Lösungen erweitern oder ergänzen können. Hier geht es nicht um den kurzfristigen Return on Investment, sondern vor allem die für beide Seiten gewinnbringende Zusammenarbeit selbst. Gründerinnen und Gründer erhalten die oft dringend benötigte Finanzierung und können auf etablierte Strukturen zurückgreifen. Und Konzerne profitieren von der Innovationskraft des Start-ups. Nicht selten lernen sie auch einiges über Unternehmermut und Purpose von den Newcomern. Für konventionelle „Konzerntanker“ ein kaum zu überschätzender Wert.

Umso erstaunlicher, dass echte Stakeholder-Dialoge gerade von den vermeintlich drögen Finanzern im Konzern hoffähig gemacht wurden. Denn längst hat sich in der integrierten Berichterstattung etabliert, dass die Frage, welche Nachhaltigkeitsthemen wirklich wesentlich für die jeweilige Unternehmung sind und daher prioritär vorangetrieben werden, unter Einbeziehung der relevanten Stakeholder geklärt werden muss.

Kunden und Lieferanten (Wertschöpfungskette):

Zu den wichtigsten Stakeholdern von Unternehmen gehören Kunden und Lieferanten, schon allein unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Dass sie in einem Boot mit dem Unternehmen und den anderen Stakeholdern sitzen, wurde nie klarer als heute. Und damit meinen wir nicht nur das Containerschiff „Ever Given“, das im Frühjahr 2021 fast eine Woche lang den Suezkanal blockierte. Hunderte weitere Frachtschiffe stauten sich in dem Nadelöhr, der mit Abstand wichtigsten Frachtverbindung zwischen Asien und Europa, über die 10 bis 12 Prozent des gesamten Welthandels abgewickelt werden. Die Havarie hatte noch wochenlang Auswirkungen auf die globalen Lieferketten und kostete die Weltwirtschaft mehrere Milliarden Dollar.

In Zeiten von Lieferengpässen, enormen Preissteigerungen, Logistikproblemen und Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (was für ein Wort!) befinden sich alle Marktteilnehmer in einer Schicksalsgemeinschaft. Aussicht auf Erfolg haben nur diejenigen, die nicht nur ihre Lieferketten dezentraler bzw. regionaler aufgestellt haben, sondern vertrauensvolle und gute Beziehungen zu ihren Lieferanten pflegen und die selbst als Lieferanten ihren Kunden gegenüber als echte Partner agieren. Nur in einer solchen Beziehung (Stakeholder Management!) ist ein verlässliches Geben und Nehmen möglich. Und das ist nicht nur logistisch von Vorteil, sondern auch die einzige Möglichkeit, Klimaneutralität über die gesamte Wertschöpfungskette zu erreichen.

Um nämlich die so genannten Scope-3-Emissionen zu erfassen und senken zu können, braucht es Informationen aus der Lieferkette. Denn die Treibhausgasemissionen dieser Kategorie entstehen außerhalb des direkten Einflussbereichs eines Unternehmens, machen aber nicht selten den größten Anteil seines gesamten CO2-Fußabdrucks aus. Konkret: Möchte ich mein eigenes Produkt klimaneutral herstellen, reicht es nicht, die Treibhausgasemissionen in der eigenen Produktion zu senken. Es kommt auch auf den CO2-Fußabdruck der verwendeten Rohstoffe an. Hierbei sind Unternehmen vor allem auf Informationen ihrer Lieferanten angewiesen und diese im Zweifel auf die Informationen ihrer Zulieferer. Sind diese Angaben – warum auch immer – nicht verfügbar, kann auch unser Unternehmen dem berechtigten Wunsch nach Transparenz seiner Kunden nicht nachkommen und diese können wiederum ihre Kunden nicht über den CO2-Fußabdruck ihrer Produkte informieren. Diese Kette setzt sich weiter fort bis zum Endverbraucher, bis zu Ihnen und uns, die ihren Beitrag zur Klimawende durch bewusst gesteuerten Konsum leisten wollen. Zwar lesen wir immer öfter auf den Verpackungen von Müsli, Würstchen & Co., dass sie klimaneutral sind. Doch oft stecken dahinter nur grobe Hochrechnungen der möglicherweise verursachten Treibhausgasemissionen, die in der Wertschöpfungskette nicht vermieden, sondern lediglich durch Kompensationsprojekte „neutralisiert“ wurden. Nicht ohne Grund liegt derzeit eine Unterlassungsklage der Wettbewerbszentrale gegen ALDI Süd vor. Grund: Die Aussage „erster klimaneutraler Lebensmitteleinzelhändler“ sei zu unkonkret und irreführend.

Selbstverständlich sind CO2-Ausgleichszertifikate – sofern sie sich auf wirklich nachhaltige Projekte beziehen – eine wichtige Brücke hin zur tatsächlichen Emissionsfreiheit. Aber auch hier kommt es auf Wahrheit, Offenheit, Initiative und Dialogbereitschaft an. Wir dürfen nicht so tun, als wäre Kompensation die Lösung des Problems und schon gar nicht damit werben. Vielmehr besteht die Herausforderung und die Chance darin, einen Schulterschluss über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg zu erreichen, um Emissionen genau zu erfassen und im nächsten Schritt vermeiden zu können. Die Voraussetzung dafür ist, miteinander zu reden und gemeinsam Lösungen für andere Wege der Zusammenarbeit zu finden. Ansonsten werden wir im Informationsstau feststecken wie die Schiffe im Suezkanal, bis es zur Havarie unseres gesamten Planeten kommt. Weil wir selbst feststecken, aber die Erderwärmung nicht aufhalten können. Schnelligkeit ist also das Gebot der Stunde. Unsere Kinder werden es uns danken.

Andersherum formuliert: Die Zukunft gehört den Unternehmen, die den Schulterschluss mit ihren Partnern in der Lieferkette schaffen und gemeinsam Lösungen entwickeln. Selbstverständlich fordert dieser Kraftakt nicht nur Unternehmen, sondern auch staatliche Organisationen. Hier sei nur der dringende Bedarf an ausreichenden Mengen grünen Stroms erwähnt (allein der jährliche Strombedarf der deutschen Chemie auf dem Weg zur Treibhausgasneutralität bis 2050 wird sich verelffachen). Doch ohne Stakeholder-Management wird der größte Strukturwandel seit über 100 Jahren – die Transformation in eine CO2-neutrale Welt – nicht gelingen.

Gesellschaft:

Spätestens mit Henry Mintzbergs Ausführungen in „Rebalancing Society“ ist uns klar, dass die Gesellschaft ein bedeutender Stakeholder jeden Unternehmens ist, sogar dem Ex-CEO von Siemens ist als Fazit der verunglückten Beziehung zu „Fridays for Future“ aufgefallen, dass dem so ist. Dabei reicht der Gedanke deutlich weiter zurück. Im englischen Mittelalter bezeichnete man diesen Stakeholder als „the Commons“ und in der heutigen Bedeutung schwingt die Arbeit von Elinor Ostrom mit, die 2009 den Nobelpreis der Ökonomie dafür gewann, dass sie aufzeigte, wie man verantwortungsvoll mit frei verfügbaren Ressourcen umgeht, die nicht reguliert sind, angefangen mit der Umwelt.

Unsere Gesellschaft steht mit dem drohenden Hitzekollaps unseres Planeten vor der größten Herausforderung in der Geschichte der Menschheit. Und zur Lösung dieses Problems werden alle Teile der Weltgemeinschaft gebraucht. Unternehmen, die in diesem Kontext noch die Strategie vertreten, sie müssten sich „politisch nicht äußern“ wirken dabei spätestens seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine aus der Zeit gefallen. Vielmehr sind Unternehmenslenker (und ihre Kommunikatoren) gefordert, Stellung zu beziehen, Veränderungsprozesse mit aktiver Einmischung mitzugestalten, zu widersprechen, wenn Dinge in die falsche Richtung laufen, aber auch Best-Practice zu verbreiten. Hinzu kommt die Notwendigkeit der Einsicht, dass das Mantra „der Markt wird es schon lösen“ zunehmend an seine objektiven Grenzen stößt und an Akzeptanz verliert. So gehört es auch zur gesellschaftlichen Verantwortung der Unternehmen, Dinge zu unterlassen, die schädlich sind, auch wenn sie legal sind. Und zu akzeptieren, dass Bürgerinnen und Bürger, Wählerinnen und Wähler und die über sie legitimierten öffentlichen Institutionen in jeder Art und Weise zu stärken und nicht zu schwächen sind, durch falsch verstandene „Lobby-Arbeit“. Das ist nicht nur nett für die Wahrnehmung als „Good Corporate Citizen“, sondern auch die klare Erwartung wichtiger Stakeholder des Unternehmens, die Gesellschaft eingeschlossen.

Vorbei sind die Zeiten, in denen Corporates mit Greenwashing (siehe Berichterstattung über o. g. verklagten Discounter) und Alibi-Sozialsponsorings gut durchkamen. Das liegt auch an einer nachwachsenden Generation, die all das hinterfragt – schlicht, weil sie die Versäumnisse unserer Generation werden ausbaden müssen. Resignation ist hier Fehlanzeige. Viele Jungunternehmerinnen und -unternehmer ergreifen selbst die Initiative, teilweise schon bevor sie die Schule verlassen. So entwickelte 2012 der damals 16-jährige Philipp von der Wippel die Idee für ProjectTogether. Die gemeinnützige Unternehmung unterstützt als Innovationsplattform Talente der nächsten Generation, bahnbrechende Ideen und konkrete Lösungen für die Zukunft zu entwickeln und im Spannungsfeld von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik effektiv Veränderung zu bewirken. Mittlerweile hat ProjectTogether bereits über 1000 soziale Initiatorinnen und Initiatoren begleitet und ein Netzwerk aus über 500 ehrenamtlichen Coaches und 400 Expertinnen und Experten aufgebaut. Die Erkenntnis dahinter: Gesellschaftliche und wirtschaftliche Herausforderungen werden oft separat gedacht – ProjectTogether bringt Gesellschaft, Politik und Wirtschaft zusammen, um gesellschaftlichen Mehrwert zu erzielen.

Die neue Generation macht vor, was längst überall an der Tagesordnung sein müsste: echtes Stakeholder-Management und die Verbindung unterschiedlichster Perspektiven und Expertisen zur Lösung der drängendsten Herausforderungen unserer Zeit. Unternehmen sind gefordert, sich einzubringen – nicht um damit als Good Corporate Citizen zu glänzen, sondern um selbst zu neuen, nachhaltig erfolgversprechenden Lösungen und Produkten inspiriert zu werden. Dass es keine breite Akzeptanz mehr gibt für die Vorstellung, der Markt könne alles regeln, erhöht den Druck für Unternehmen. Denn neben klugen demokratischen Denkerinnen der neuen Generation (wie Mariana Mazzuccato oder Anand Giridharadas) positionieren sich populistische Bewegungen sowie autarkische Regimes mit anderen Argumenten, diametral anderem Wertekorsett und Absichten auf die Seite derer, die den Staat als Hauptakteur auch ökonomischen Wirkens sehen. Die einen als Teil eines partizipativen, demokratischen Prozesses, die anderen aus geopolitischen Macht-Erwägungen. Es ist also nicht nur für die Klimakatastrophe und die Gefahr nuklearer Kriege kurz vor Zwölf, sondern auch für die gesellschaftliche Legitimation freien Unternehmertums in Demokratien. Finanzunternehmen wissen, wie sich deren Fehltritte, die zu mehreren Krisen von 1987 über 2008 und 2012 führten, auf die Regulierung ihres Geschäfts ausgewirkt haben. Viele Unternehmen, die um die Relevanz von Stakeholder-Management wissen, haben verstanden, dass es bei ESG darum geht, die gesellschaftliche Akzeptanz der Unternehmungen zu fördern und zurückzuerobern. Durch Fakten, bis hin zur Überholung ihrer Geschäftsmodelle und nicht durch White-, Grey – oder Greenwashing. Jetzt heißt es: ESG – reload it!

Kommunikation:

Unternehmenskommunikatoren und -kommunikatorinnen sind mehr denn je gefordert, ihre Rolle als Enabler für gelingendes Stakeholder-Management auszufüllen, auch und vor allem dort, wo es wehtut. Wenn sie es nicht schon längst sind, müssen sie sich jetzt als Expertinnen und Experten für Stakeholder-Meinungen und den Umgang mit ihnen etablieren. Professionelle Analysen und Konzepte zu den möglichen Auswirkungen unternehmerischer Entscheidungen auf Glaubwürdigkeit und Reputation gehören genauso auf den Entscheidungstisch des Top Managements wie Umsatzprognosen und juristische Gutachten. Denn allen Disziplinen gemeinsam ist, dass die darin enthaltene Chancen-Risiko-Abwägung das Geschäft – in die eine oder andere Richtung – maßgeblich beeinflussen kann. Gerade bei Akquisitionen können Reputationsrisiken zum „Deal Breaker“ werden. Überschaubare und rechtzeitig identifizierte Risiken lassen sich dagegen durch kluge Kommunikationsstrategien bewältigen und Chancen schneller oder besser nutzen. Deswegen gehört auch die von der Unternehmenskommunikation bereitgestellte „Reputational Due Diligence“ – wie der Name schon sagt – zur Sorgfaltspflicht nachhaltig erfolgreicher Unternehmen. Fragen Sie die (noch lebenden) Top-Manager und Berater des großen europäischen Energieversorgers, die sich im letzten Moment vor der geplanten Übernahme von Enron gegen den Deal entschieden und so das eigene Unternehmen gerettet haben.

Die Kraft exzellenter Kommunikation für gute Unternehmensführung zu nutzen, setzt allerdings zwei Dinge voraus: ein tieferes und breiteres Anforderungsprofil an die Kompetenzen der Chef-Kommunikatorinnen und -kommunikatoren sowie die Beteiligung an den Entscheidungen und Mit-Haftung.

Neben der kommunikativen Grundausstattung in der Profession müssen sie auch das Geschäftsmodell des Unternehmens durchdringen, in seinen Verästelungen kennen und es fachlich hinterfragen können. Besonders wichtig sind zudem soziale Talente wie Zuhören, Umgang mit Dilemmata, Dialogfähigkeit, Diplomatie und Verhandlungs- sowie Mediationstechniken.

Die zweite Voraussetzung, neben dem erweiterten Kompetenzprofil, ist die Anbindung und Teilhabe der Kommunikationschefs bzw. -chefinnen an Strategieentwicklung und Entscheidungsprozessen. Denn die beste Kommunikationsstrategie nutzt nichts, wenn sie zu spät kommt – nämlich dann, wenn die zugrundeliegende unternehmerische Entscheidung längst gefallen ist, ohne, dass die Stimme der wichtigsten Stakeholder gehört wurde bzw. sie – bei ganz wesentlichen Veränderungen – die Chance hatten, in diese Entscheidungen eingebunden zu sein und sie sich zu eigen zu machen. Die Erarbeitung des „Reason why“ für die relevanten Stakeholder-Gruppen ist dann etwa so, als finge man an, über Familienplanung zu sprechen, wenn der Nachwuchs schon längst unterwegs ist. Eine etwas seriösere Analogie wird gern (nicht ohne Grund) von der Versicherungsbranche bemüht: Man kann ein Haus nicht erst versichern, wenn es brennt. Genau das aber ist oft immer noch die Erwartung an Kommunikationsprofis, und zwar außerhalb des Krisenmanagements. Der Satz „Jetzt muss es nur noch kommuniziert werden“ bringt eine Einstellung auf den Punkt, die nicht nur längst der Vergangenheit angehören sollte, sondern noch nie richtig war: nämlich das Ganze nachträglich so hinzubiegen, dass es für die wichtigsten Stakeholder Sinn macht oder (noch schlimmer) die Entscheidung „blind“ kundzutun. „Kommunikation“ ist das nicht: Hier wird die Verkündung einer Entscheidung – oft gefällt hinter verschlossenen Türen und ohne Anhörung der Beteiligten – gemeint. Trifft das Vorhaben dann nicht auf Wohlwollen oder zumindest neutrale Kenntnisnahme, stellen die Entscheider nicht immer die Entscheidung selbst in Frage, sondern deklarieren die Reaktion als „Kommunikationsproblem“. Schon allein deshalb sollte sich die strategische Unternehmenskommunikation als Brandschützer und nicht als Brandbeschleuniger betätigen.

Aber nicht nur Unternehmenslenker und -lenkerinnen sollten sich der Relevanz von Stakeholder-Management bewusst sein. Auch die Kommunikationsabteilungen selbst müssen ihrer Verantwortung gerecht werden und durch ihre Funktion einen für das Top Management greifbaren Mehrwert schaffen. Denn die Einbindung selbst ist kein Selbstzweck. Vielmehr brauchen Kommunikationsprofis das erforderliche Wissen, Know-how, die Erfahrung und manchmal auch noch das nötige Quäntchen zivilen Ungehorsams. Denn darauf zu warten, dass man zum Beispiel den Auftrag für eine Reputational Due Diligence bekommt, kann in manchen Unternehmen zum Dauerzustand werden. Vielmehr geht es aber ja darum, sinnvolle Veränderung mitzugestalten und die kann – zumindest, wenn es um die großen Themen unserer Zeit geht – nicht warten. Unternehmenskommunikatorinnen und -kommunikatoren müssen das Top Management daher mutig beraten und aushalten können, wenn sie deswegen nicht „Everybody’s Darling“ sind. Die sprichwörtlichen „Vorstandstrompeten“ jedenfalls, die kommunikativ nur schön verpacken, was der VV gesagt hat, sind eine Einbahnstraße und für das Stakeholder-Management ungeeignet.

Tatsächlich ist die Etablierung einer zeitgemäßen Unternehmenskommunikation selbst eine echte Stakeholder-Management-Aufgabe. Denn die Vorstellung, dass Kommunikationsabteilungen nur dafür da sind, schöne Texte und Illustrationen bereitzustellen, ist erstaunlicherweise immer noch weit verbreitet. In dieser Hinsicht sind die wichtigsten Stakeholder für Kommunikatorinnen und Kommunikatoren neben dem Top Management vor allem Schnittstellen wie HR und Betriebsrat (Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter), Corporate Development (Strategie, Akquisitionen), Investor Relations und natürlich das operative Business (Kunden).

Was leicht übersehen wird: Auch die Kommunikationsteams selbst müssen auf diese Reise mitgenommen werden. Und das ist eine große Chance, denn die Sinnhaftigkeit von professionellem Kommunikationsmanagement war nie größer. Purpose pur. Wer das nutzt und auf ein Team zählen kann, das sich seiner Rolle im Unternehmen bewusst ist und sie – mit der jeweiligen Expertise, aber vor allem auch mit Schnelligkeit, Wahrheit, Offenheit, Initiative, Dialogbereitschaft und Empathie – ausfüllt, hat die besten Voraussetzungen, nicht nur echten Mehrwert für das Unternehmen, sondern auch in einem größeren Zusammenhang zu schaffen.

Conclusio

Wir wissen nicht, wie die Welt in ein paar Jahren aussieht und haben auch nicht den Anspruch, es zu wissen. Aber die aktuellen, teils existentiellen Herausforderungen werden die individuellen und kollektiven Erinnerungen prägen wie die Landung auf dem Mond, der Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs, der 11. September 2001: Jeder wird sich in 30 Jahren erinnern, wo sie/er war und wie es ihr/ihm in dieser Zeit ergangen ist. Das wird die Beziehungen zu Menschen und Unternehmen prägen.

Das Verhalten während dieser Zeit seitens Unternehmen und deren Führungskräften wird für neue Beziehungen zu den Stakeholdern führen: von einer Distanzierung und „Bestrafung“ seitens der Stakeholder durch den teilweisen oder vollständigen Entzug der „license to operate“ bis zur größeren Nähe und Loyalität. Das wird auch und vor allem Unternehmen betreffen, die erst jetzt entstehen oder wachsen. Aber es wird traditionelle Unternehmen gefährden, die auch vor der Pandemie schon ihre Herausforderungen hatten und durch schlechte Führung und Kommunikation ihre Beziehungen zu den Stakeholdern verwirken.

Wenn diese Unternehmen das Profil der gesamten Wirtschaft prägen, könnte das Risiko wachsen, dass gute wie schlechte Unternehmensführung, ausbeuterische und faire, gesundheitsschadende und gesundheitsfördernde Geschäftsmodelle, in den gleichen Topf des Wirtschaftens gesteckt und durch eine Allgemeinhaftung populistisch verteufelt werden. Das untergräbt die Legitimation unternehmerischen Handelns an sich, mit schwerwiegenden Folgen für die Innovationskraft der Wirtschaft und ihre Fähigkeit, globale Herausforderungen zu meistern, sich an Lösungen zu beteiligen und sie voranzubringen.

Wir wissen nicht, ob verkrustete Unternehmen, die noch im Gestern leben, dazulernen werden oder diejenigen, die aktuell erfolgreich Stakeholder-Management und Krisenkommunikation betreiben, all das wieder auf Stand-by stellen, wenn der akute Krisenmodus irgendwann wieder obsolet wird. Aber wir wissen, welche Chancen darin stecken – nicht nur für den Erfolg von Unternehmen, sondern für die zwingend notwendige Lösung der brennendsten Zukunftsfragen unserer Gesellschaft. Wenn es nur ein Leitsatz aus der Krisenkommunikation ist, der hängenbleibt, dann „Schnelligkeit vor Vollständigkeit“. Es geht darum, jetzt orchestriert zu handeln und im besten Sinne miteinander zu kommunizieren, um im Driver Seat zu bleiben. Wie bei der Ereigniskommunikation geht es nicht darum, solange im stillen Kämmerlein Fakten zusammenzutragen, bis in einer ersten Verlautbarung keine Fragen mehr offenbleiben. Machen wir uns die Erfahrungen aus den vergangenen zweieinhalb Jahren zunutze und handeln und kommunizieren wir mit unseren Stakeholdern, hören wir ihnen zu, binden wir sie ein und beteiligen wir sie an den Lösungen, weil es die Situation erfordert!

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